"Wer die Berührung mit dem Tage, sei es aus Menschenfurcht, sei es um innerer Sammlung willen, scheut, der will nicht essen und verschmäht das Frühstück. Derart vermeidet er den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt. Eine Behutsamkeit, die nur durch die Verbrennung des Traumes in konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet, sich rechtfertigt, anders aber zu einer Vermengung der Lebensrhythmen führt. (...) Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tag aus, darf Traum aus überlegener Erinnerung angesprochen werden. Dieses Jenseits vom Traum ist nur in einer Reinigung erreichbar, die dem Waschen analog, jedoch gänzlich von ihm verschieden ist. Sie geht durch den Magen. Der Nüchterne spricht von Traum, als spräche er aus dem Schlaf."
Walter Benjamin, Einbahnstraße
in: Gesammelte Schriften IV, 85f.

Den Tag ohne Frühstück zu beginnen, ist Ausdruck einer Scheu, die Schwelle zum Tag zu überschreiten. Man will den Schlaf und den Traum in den Tag hinein ausdehnen, dem nächtlichen Leben nachhängen und nicht durch Essen sofort auf die andere Seite wechseln. Dieses Zögern vor der Schwelle des Tages ist eine Verweigerung, Ausdruck einer Flucht. Nur aus der Position des wachen Bewusstseins heraus können die Inhalte der Nacht zu etwas Eigenem werden.



Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. (Werkausgabe edition suhrkamp). Frankfurt am Main: Suhrkamp (edition suhrkamp), 1980