"Ich glaube, daß die Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Ich glaube, es gibt gewisse Tore, die einzig die Krankheit öffnen kann. Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand, der es uns nicht erlaubt, alles zu verstehen. Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten; ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns doch davon weg, so daß wir uns nicht mehr darum kümmern. Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht nach irgendeiner Seite hin ein bißchen beschränkt gewesen wäre; wie solche, die nie gereist sind."
André Gide, Aus den Tagebüchern 1889-1939, 312f.

Ich bewohne einen Körper, den ich kaum kenne, dessen inneres Leben sich mir weitgehend entzieht. In Krankheiten oder bei Verletzungen aber beginnt der Körper gleichsam zu sprechen. Es ergibt sich nicht nur eine intensivere Körpererfahrung, sondern auch eine Bewusstheit ansonsten selbstverständlicher Weltbezüge. So verliert das Gehen seine Selbstverständlichkeit bei Erkrankungen des Bewegungsapparates oder das Atmen bei Erkrankungen der Atmungsorgane oder das Essen bei Störungen der Verdauungsorgane. So werden Gehen, Atmen, Essen – diese Beispiele lassen sich erweitern – durch ihre Beeinträchtigung durch Krankheiten zu bewussteren Erfahrungen.

Name  PW 


Gide, André: Aus den Tagebüchern 1889-1939. Stuttgart: DVA, 1961