"Im üblichen Bewußtsein heißen die Schwellen demnach: Übergang, von einem Bereich in den anderen. Weniger bewußt ist uns vielleicht, daß die Schwelle auch für sich ein Bereich ist, besser: ein eigener Ort, der Prüfung oder des Schutzes. Ist nicht der Kehrichthaufen, auf dem Hiob in seinem Elend hockt, so eine Prüfungsschwelle? Begab man sich nicht einst auf der Flucht unter den Schutz eines Menschen, indem man sich auf dessen Schwelle niederließ? (...) Jeder Schritt, jeder Blick, jede Gebärde sollte sich selber als einer möglichen Schwelle bewußt werden und das Verlorene auf diese Weise neu schaffen. Das veränderte Schwellenbewußtsein könne dann die Aufmerksamkeit neu von einem Gegenstand auf den anderen übertragen."
Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes, 126f.

Schwellen sind Orte des Neubeginns, der Verwandlung, wo etwas Altes stirbt, um etwas Neues beginnen zu lassen. Rituale in eher archaischen Gesellschaften zelebrierten den Übergang von einem Lebensbereich in den anderen. Schwellen sind Orte des Innehaltens, des Aufschubs, des Wartens, und als solche sind sie auch Situationen der Prüfung. In unserem Leben sind sie allerdings selten geworden. Dabei könnte jeder Augenblick zu einer Schwelle werden, die die Aufmerksamkeit schärft.

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Handke, Peter: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt am Main: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch), 1986