"Nicht unsere Lüge bedroht uns, sondern die Wahrheit, die geduldig wie ein Diamant wartet, uns schläfrig, satt und zufrieden macht, um uns so zu besiegen wie wir im Anfang aller Dinge besiegt wurden. Wenn wir es zuließen, würde uns die Wahrheit vernichten. Denn »Wahrheit« ist dasselbe wie der Anfang, und der Anfang war das Nichts, und das Nichts ist der Tod, und der Tod ist der Feind, und darum laßt uns alle zusammen lügen oder wir werden gewiß alleine lügen. Die Wahrheit würde uns gern ein Bild des Anfangs geben, des Lebens, ehe es zu zweifeln lernte, ehe es von der Idee angesteckt wurde. Und dies Bild ist nichts anderes als das Bild des Endes: die Kehrseite der Schöpfung ist die Apokalypse. Und die »Lügen«, die wir erzählen, verraten »das Wahre«, nur um den Tag des Gerichts, an dem Anfang und Ende eins sein werden, von uns fernzuhalten."
Carlos Fuentes, Hautwechsel, 415

Bilder, Träume, Werke baut man sich schützend auf, um der Wahrheit auszuweichen, um nicht von ihr vernichtet zu werden. Die Wahrheit ist das Ende, das auf uns wartet, das uns verschlingende Nichts, das durch nichts als Lügen gebannt werden kann. Das Bewusstsein der Sterblichkeit müsste eigentlich dazu führen, dass wir uns selbst auslöschen. Dass wir trotzdem Tag für Tag weiterleben, verdankt sich einer Selbsttäuschung.



Fuentes, Carlos: Hautwechsel. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 1989