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Helmut Brandt: ohne Titel


 
Dort vor dem Tor lag eine Sphinx,
Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten,
Der Leib und die Tatzen wie ein Löw',
Ein Weib an Haupt und Brüsten.
Ein schönes Weib! Der weiße Blick,
Er sprach von wildem Begehren;
Die stummen Lippen wölbten sich
Und lächelten stilles Gewähren.
Die Nachtigall, sie sang so süß,
Ich konnt' nicht widerstehen -
Und als ich küßte das holde Gesicht,
Da war's um mich geschehen.
Lebendig ward das Marmorbild,
Der Stein begann zu ächzen -
Sie trank meiner Küsse lodernde Glut
Mit Dürsten und mit Lechzen.
Sie trank mir fast den Odem aus -
Und endlich, wollustheischend,
Umschlang sie mich, meinen armen Leib
Mit den Löwentatzen, zerfleischend.
Entzückende Marter und wonniges Weh!
Der Schmerz wie die Lust unermeßlich!
Derweil des Mundes Kuß mich beglückt,
Verwunden die Tatzen mich gräßlich.
Die Nachtigall sang: "O schöne Sphinx!
O Liebe! was soll es bedeuten,
Daß du vermischest mit Todesqual
All deine Seligkeiten?"
"O schöne Sphinx! O löse mir
Das Rätsel, das wunderbare!
Ich hab darüber nachgedacht
Schon manche tausend Jahre".

Heinrich Heine, Buch der Lieder

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