Ansichten
Helmut Brandt: ohne Titel


 
Rainer Maria Rilke an Clara Rilke (1907):
"Du wirst sie sehen (die Wüste). Wirst das Haupt der großen Sphinx sehen, das sich mühsam emporhält aus ihrem beständigen Anschwellen, dieses Haupt und dieses Gesicht, das die Menschen begonnen haben in seiner Form und Größe, dessen Ausdruck aber und Schauen und Wissen unsäglich langsam vollendet ward und so ganz anders als unser Angesicht. Wir stellen Bilder aus uns hinaus, wir nehmen jeden Anlaß wahr, weltbildend zu werden, wir errichten Ding um Ding um unser Inneres herum -: hier aber war eine Wirklichkeit, die sich von außen in diese Züge warf, die nichts als Stein sind. Die Morgen von Jahrtausenden, ein Volk von Winden, der Aufstieg und Niedergang unzähliger Sterne, der Sternbilder großes Dastehen, die Glut dieser Himmel und die Weite war da und war immer wieder da, einwirkend, nicht ablassend von der tiefen Gleichgültigkeit dieses Gesichts, so lange bis es zu schauen schien, bis es alle Anzeichen eines Schauens genau dieser Bilder aufwies, bis es sich aufhob wie das Gesicht zu einem Innern, darin alles dies enthalten war und Anlaß, und Lust und Not zu alledem. Und da, in dem Augenblick, da es voll war von allem Gegenüber und geformt von seiner Umgebung, war ihm auch schon der Ausdruck hinausgewachsen über sie. Nun wars, als ob das Weltall ein Gesicht hätte, und dieses Gesicht warf Bilder darüber hinaus, bis über die äußersten Gestirne hinaus, dorthin, wo noch nie Bilder gewesen waren ... Ich denke mir, es muß so sein, unendlicher Raum, Raum, der hinter den Sternen weitergeht, muß, glaub ich, um dieses Bild herum entstanden sein."
Rainer Maria Rilke, Briefe, Erster Band , 155f.
Seine 'reale' Begegnung mit dem Sphinx beschreibt Rilke 1914 in einem Brief an Benvenuta. Die Beziehung von Gesicht und unendlicher Welt in einem Gesicht zu erfahren, diese schauende Einsicht kam "in solchen Wellen über mich, daß ich fast eine ganze Nacht unter dem großen Sphinx lag, wie vor ihm ausgeworfen von all meinem Leben."
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