"Warum ist es so schwer, von sich zu sprechen?
Weil wir uns mit dem Blick der anderen sehen. Weil uns das Angst macht. Weil wir uns nicht kennen, sondern hinter uns zurück und über uns hinaus sind. Weil unsere Sprache gewöhnlich gespalten ist in ein erfahrungsloses allgemeines Reden und das dunkle fragmentarische Murmeln des Traums.
Diese Kluft ist die Spur, die die Angst gezogen hat, mitten durch unser Leben, der Widerspruch, den authentisches Sprechen zu überbrücken versucht. Doch die einzige, eigentlich wahre Geschichte, das eigene Leben, ist nie ganz in ihrer Wahrheit angelangt."
Dieter Wellershoff, Ein Gedicht von der Freiheit, 7

Die Geschichte, die ich von mir erzählen will, ist die Antwort auf die Frage des Anderen: »Wer bist Du?«. Ich bin kein in sich abgeschlossenes Subjekt, sondern offen für den Anderen. Nur in Bezug auf einen Anderen kann ich meine Geschichte erzählen. Doch in der Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen entgeht mir meine Geschichte, sie wird inkohärent, ich werde mir enteignet, ich bin nicht mit mir identisch.
Der Anfang meiner Identität war eine Enteignung durch den Anderen, deren Botschaften ich nicht verstand. Als Kompensation bildete sich in mir eine Fremdheit, die ich mir nicht aneignen konnte. Deshalb gibt es etwas in mir, das ich nicht erzählen kann.



Wellershoff, Dieter: Ein Gedicht von der Freiheit. Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1977