"Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedesmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind – nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er mu&ß es sein. Wir können nicht mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, daß unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.
»Du bist nicht«, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: »wofür ich dich gehalten habe.«
Und wofür hat man sich denn gehalten?
Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat."
Max Frisch, Tagebuch 1946-1949, 26f.

Das Ende einer Liebe zeigt sich darin, dass man glaubt, den Anderen zu kennen. Er vermag uns nicht mehr zu überraschen. – Da die Nähe in einer Beziehung mit der Zeit zu einer größeren Vertrautheit mit dem anderen führt, welche das Verhalten des anderen immer erwartbarer macht, scheint der Verlust der Liebe in jeder Beziehung unausweichlich. Es sei denn, die Vertrautheit vermag nicht die Fremdheit auszulöschen.



Frisch, Max: Tagebuch 1946-1949. München: Knaur Taschenbuch, 1967