"Reinheit ist Abscheu vor dem Leben, Hass gegen den Menschen, krankhafte Leidenschaft für das Nichts. Ein Körper, der chemisch rein ist, muß eine barbarische Behandlung durchmachen, ehe er in solch einen absolut widernatürlichen Zustand gelangt. Der Mensch, den der Dämon der Reinheit reitet, verbreitet Zerstörung und Tod um sich. Reinheit des Glaubens, politische Säuberung, Reinerhaltung der Rasse – die Variationen über dieses grausige Thema sind zahlreich, aber alle führen unterschiedslos zu ungezählten Verbrechen, deren Werkzeug vorzugsweise das Feuer ist, das Symbol der Reinheit und das Symbol der Hölle."
Michel Tournier, Der Erlkönig, 74

Der Wunsch nach Reinheit ist Abwehr von Vermischung, Versuch der Homogenisierung durch Ausgrenzung. Aber das Leben ist unrein, in ihm vermischen sich Widersprüche, woraus Bewegung und Entwicklung entsteht. Reinheit dagegen wäre Stillstellung jeder Bewegung, denn sie zielt auf Ruhe und Vollendung. Insofern ist der Wunsch nach Reinheit Ausdruck einer Lebensverneinung, eines Hasses auf das Leben.



Tournier, Michel: Der Erlkönig. Roman München: Knaur Taschenbuch, 1975