"Nie wieder können wir Vergessenes ganz zurückgewinnen. Und das ist vielleicht gut. Der Chock des Wiederhabens wäre so zerstörend, daß wir im Augenblick aufhören müßten, unsere Sehnsucht zu verstehen. So aber verstehen wir sie, und um so besser, je versunkener das Vergessene in uns liegt. Wie das verlorene Wort, das eben noch auf unseren Lippen lag, die Zunge zu demosthenischer Beflügelung lösen würde, so scheint uns das Vergessene schwer vom ganzen gelebten Leben, das es uns verspricht. Vielleicht ist, was Vergessenes so beschwert und trächtig macht, nichts anderes als die Spur verschollener Gewohnheiten, in die wir uns nicht mehr finden könnten."
Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert
in: Gesammelte Schriften IV, 267

Das Verlorene und Vergessene fände keinen Ort mehr in uns, wenn es zurückkehrte. Es ruht nur als versunkene Sehnsucht in uns. Aber wie kann man das Vergessene zurückhaben wollen, wenn es vergessen worden ist? Das Vergessene ist vielleicht der dunkle Saum der Gefühle, auf den die Erinnerungen verweisen. Oder das Vergessene sind die Lücken in der Erinnerung, z. B. an die frühe Kindheit. Oder die virtuelle Erinnerung im Sinne Bergsons, die keine gegenwärtige Aktualisierung findet. – In jedem Fall zielt eine Sehnsucht nach Wiederkehr des Vergessenen in das Unzugängliche unserer Vergangenheit.



Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. (Werkausgabe edition suhrkamp). Frankfurt am Main: Suhrkamp (edition suhrkamp), 1980